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    63 Gedichtfliesen können in Halle an über 30 Orten entdeckt werden. Hier können Sie alle Gedichte nachlesen.

    Die Künstler und ihre Gedichte

    Regen

    Der Regen ist kalt und hält lange. Er läuft an schwarzen Stämmen
    herunter. Er sickert in den Boden. Die Augen lassen nicht los.
    Sie hören die kleinen lautlosen Aufschläge. Der Regen ist
    ein langsames Lied. Es schaut aus dem Fenster. Seine Stimmen
    sind leise und weiß. Manchmal ist es nur eine, die an den Lippen
    hängt. Sie wird immer heller, singt von vergangenen Wegen
    und Wolken. Der Himmel ist still. Und die Wiesen liegen im Schlaf.
    Sie trinken im Traum und im Wachen. Heute ist es am wenigsten Licht.
    Der Vater starb in seinen Armen. Er ging aus dem Schatten
    des Wassers. Er lächelte noch, als der Sohn ihn nach Hause trug.

    Seebestattung

    Eine Windbö
    wirft den Kutter um

    Die ganze Trauergemeinde
    ertrinkt

    Nur die Urne
    schwimmt

    VOLKSLIED

    es kommt die Zeit in der wir stark nach Kneipe stinken
    und unsre Haut unsterblich in der Sonne glänzt
    wir glühen voller Inbrunst unter Linden
    am Brunnen vorm Fabriktore im Lenz

    aus: Biestmilch. Gedichte, Dresden, Edition Azur 2016

    Der Paläontologe leckt den Sand
    vom Zahnfossil des Urpferds
    im PETM darbten verzwergten
    Säuger Pflanzen passten sich an
    in zweihundert Jahren vielleicht
    sagt der Experte
    sind auch wir ganz klein
    auf der Suche nach einem Fluss

    Key

    Blau wie ein Splitter, vom Himmel gefallen
    liegt er leicht in der Hand: ein Begleiter am Band
    der uns Zutritt verschafft, unscheinbar, stumm, ein eifriger
    Posten auf Wacht: jede Sekunde erfassend, selbst aufm Klo
    ist er ihr Agent, der liefert, uns zu loben/zu strafen, wie Kinder
    unzerstörbar, so gibt er sich, gegen die Wut
    die ihm gilt, unschuldig, klar, als ein Blick, alles durchdringend
    bereit zu zerstören, uns, im Job, ganz nebenbei

    diese irre freude
    leicht an deiner hand
    zu hängen
    und dabei beide
    hände zu kennen diese
    wandernden windigen
    weichen packenden
    zwackenden suchenden
    streifenden greifenden
    mich immer berührenden
    verführenden haltenden
    fassenden und lassenden
    vagabunden


    aus: Blaudunkel. Gedichte, Halle, Mitteldeutscher Verlag 2024

    auf eine wiese gehen, schüchtern, und streunen,
    den flieder riechen, mitten im gras, eine handvoll
    fliesen finden, mit rissen versehen (gekratzten?),
    resten von fugenkleber, mit fragen (wo läufst du
    hin?). sie in die hand nehmen, sachte, wie flusen
    fliese um fliese auslegen, etwas glut dazugeben
    salze, zehn zeilen lang nur, auf daß träume
    fließen, bilder von brachen, von liegen im grünen
    versäumen, versäumen, was fliehen sein könnte
    was drang. und lügst du? fliegst du die halde entlang?

    Für C.

    Wie viele Instrumente der Regen hat, überall
    klingt er anders. Vermutlich könnte man die Welt
    neu errichten, mit sämtlichen Gebäuden und Landschaften
    hätte man nur ein Archiv der Regengeräusche.
    Aber es bräuchte auch jemanden, der zuhört. Zwei sogar.
    Man braucht nur einen Regen,
    einen Ort mit Baum und Strauch.
    Und einen zweiten Menschen.
    Diesen zweiten braucht es auch.

    ich trage eine kleine feder
    vom rücken eines dunklen vogels
    sie lässt mich mit den händen spüren
    was menschen mir nicht sagen mögen
    an kalten tagen will ich wissen
    wo dunkle vögel überwintern

    mein kopf folgt seltsamen gesetzen


    aus: Gestohlene Luft. Gedichte. © kookbooks 2020

    Maica Domnului

    Land der zerküssten Ikonen. Madonnenbild.
    Kühl hält die Mutter das Kind auf dem Arm, auf dem
    linken, vom Leib sich. Verloren die Farbschicht der

    Antlitze, Kleider u. Tücher. Nur Holz mit dem
    silbernen Oklad der Nimben (wie Hufeisen),
    Hände (samt Sphäre) u. Füße (im Kerzenruß).


    aus: Stundenholz. Gedichte, Frankfurt am Main, Schöffling & Co. 2024

    du hast so schön die Rosen hochgebunden
    die englischen Rosen mit ihren schweren Köpfen
    ich weiß nicht wie es noch gut werden soll
    ich denke der Sommer noch das Blühen noch
    ich denke ein wenig wird alles noch halten
    vorm Gartentor schläft ein Drache ich vergesse
    immer öfter das Tor hinter mir zu schließen
    ach mein schön gefüllter verblühender Kopf

    ich vermisse speziell das letzte jahr vor
    unser aller geburt 1963
    stellte der bronx zoo in new york
    sein neustes tier vor
    betitelt als      
    das gefährlichste tier der welt im raum
    stand and this is where it ends with us

    ein spiegel

    immer denke ich an deine sommersprossen unterm kinn
    die dort im schatten liegen – kleine hunde
    auf deinen weißen augenschonern, deckelchen, deckchen
    liegen sie auch. vielleicht auch mokkatassen, kleinste tässchen
    die ganz reglos stehn. nur mit der zungenspitze
    auszukosten. wie leicht verschwitzt das alles ungeheuer
    mundet, duftet, still verwundert! angemalte gartenhäuschen.
    läg ich im grab mit einer schnur an meiner hand
    ich würde klingeln
    für jede sommersprosse schrecklich klingeln!


    aus: ich lebe in einem wasserturm am meer, was albern ist.
    Gedichte, Wiesbaden, luxbooks 2013

     

    Jeden Morgen erwachen die Frauen etwas früher als die Angst.
    Früh genug, um die Kinder mit Hoffnung zu stillen. Um die
    Spinnweben der Angst zu entfernen und die Fenster aufzu-
    reißen. Durch das geöffnete Fenster steigt der Tag. Er trägt
    silberne Ohrringe, in denen trifft die Liebe auf den Hass usw.
    Wir kennen das, die alte Geschichte von oben und unten, gut
    und schlecht. Der Tag setzt sich, und die Frauen bieten ihm
    Kaffee an. Dann trinken sie schweigend. Selbst wenn die Furcht
    sich einschleichen sollte im Laufe eines langen Tages, die
    Frauen wissen: Am Morgen werden sie wieder furchtlos sein.


    aus: 100 sehr kurze Gespräche. Gedichte, Nettetal, Elif Verlag 2023

    Ich bin deine Muhme, ja,
    aus Körnchen und Krume ward
    ich gestoßen, gebrannt,  
    „je runder die Körner, desto
    geringer der Schwund!“,
    ging dir leicht von der Hand,
    vielleicht, damit du liest:
    Mensch, aus Lehm gemacht,
    aus Lehm gemacht, ich Fliese.

     

    Gedichte sind komische kleine Dinger.
    Sie werden einfach so an Land gespült,
    ihr Anblick ist oft unerträglich.
    Doch manchmal sehe ich auf ein Gedicht
    und möchte poppen mit ihm.
    ---
    Auf der Folie dieses
    elektrischen Körpers, der als Gesetz
    des Widerspruchs in der moralischen Welt
    interpretiert wird, will ich Abschied nehmen
    von solcher Art der Freizeitbeschäftigung.

    Dass wir im Sauerstoff-Meer leben

    Schau auf die Mauersegler, wie sie nach Plankton jagen
    Die Insekten, in der zähen Sommerluft
    Die Bäume, deren Ausscheidungen wir atmen

    Was heißt schon frei
    wenn Du nicht schwimmen kannst

    Schräg
     
    Vogelmiere breitet sich aus auf den Steinen
    die Hühner fressen sie nicht
    sie halten den Kopf schief und warten
    sie fressen nur, was man ihnen gibt
    nur was man rausreißt und ihnen hinwirft
    macht sie verrückt; sie lassen es
    sofort wieder fallen, wenn man das nächste
    rausreißt und wirft

    dein bin ich geworden mit dem ersten Schritt
    vom Ufer ins Wasser hinein
    ins offene Auge zwischen den Feldern
    dein Teichlinsenreich, Wassermann
    hier also find mich
    Lehm zwischen den Zehen
    und wasch mich mit Tränen
    und wasch mich mit Schweiß
    und tauf mich im Namen des Schilfs und der Weiden
    im Namen des Baches, der namenlos fließt

    das hingeworfene, geschenkte

    was aber, wenn dieses leben niemand haben will, dies hingeworfene,
    geschenkte, einzige, schon mehr als halb vergangene. was wenn blessuren
    keiner zählen will, schönheiten unter den blessuren, kleine blaue flecken
    aus liebe. was, wenn niemand beißen will in diesen nacken, diese poren,
    aus denen morgens träume sickern, abgesondert in laken
    als stinkende spur. wenn diese detektivarbeit niemand übernehmen will,
    nicht mal für gute kohle: bleibt dann alles wie es ist, bleibt der körper
    hängen im durchzug, an einen türrahmen gebunden, zitternd, oder
    kommt eine böe, reißt ihn in die höhe, trägt ihn davon?


    mit einem Satz von Tomas Espedal, Übersetzung: Paul Berf

     

    SO SIND WIR
    Uns geneigt. Das Gras
    Verschwimmt, es geigt
    Der Schatten übers Fell. Ein Berg geht
    Auf, schon stehn wir hell. Es träumt
    Sich was, verstimmt uns schlingt uns
    Schnell und bleibt

    Panorama Cospuden

    Süden und du, das kann noch reichen, sind die Bäume blattlos, sind die
    Augen ohne Wimpern, sind meine Freunde auf den Straßen wie
    im städtischen Gefängnis oder wie ausgesetzt auf ihren Wegen –
    der See ist still, du gehst wohl fort, hinten geht ein Hundetrainer
    Freunde in Jogginghosen, in den Gärten Tollkirschen mit dunklen
    Beeren, einmal berauscht, dann wieder ausgegraut, haben uns zu lichtscheuen
    Wesen erzogen, kaum vorbei der Kuss, zogen wir uns an Computer zurück

    Mir schwant, ich gehe unter

    die Haut, die Haut
    aber schützt mich nicht vor Dunkelheit
    und sie hält nicht an Händen

    aber sie sorgt dafür
    dass ich beisammen bleibe, die Gedichte
    wie Organe mit mir trage

    wenn ich schweige, machen sie mich aus

    es bedeutet haut, es
    bedeutet durch
    türen gehen in diesem
    schwankenden haus überm
    kliff, in diesem lufthaus
    in dem die toten heraus
    und herein wie
    schwalben fliegen.


    aus: Im Lufthaus. Gedichte, Halle, Mitteldeutscher Verlag 2005

     

    LEBENSLAUF

    vor meinem vaterhaus
    stand eine linde
    die ich trotz langen
    suchens einfach
    nicht mehr finde

    Trugen mich Rehe
     
    Ich habe alle Blätter verloren
    als der Wind mich durchschoss
    gab ich auch die herzförmigen
    schönen und gelben gab
    was ich noch besaß den Rehen
    meine ganze Angst trugen sie
    unter ihren labilen Rippen
    mein entzündetes Fell über
    die Berge weit weg sollte es
    sein wo kein Schuss mehr
    nur weit weg sollte es sein.

     

    kleine Studie über meine Hand

    am Abend habe ich bemerkt:
    meine Hand auf meinem
    Knie ist für einen Moment
    etwas Schönes, Wohlgeformtes
    Saumliebchen, einen Moment
    saumselig, säumig gar, träge
    durchädert, hält das Knie, fußt
    auf Haut, baut aufs Gliedmaß
    aufs Istmaß, mustergültiger
    Fühler, ruht nur, sieh nur:
    schnurrt
     

    aus: oder wie heißt diese interplanetare luft. Gedichte. © dtv 2013

     

    FADEOUT

    Natürlich werden wir nicht so gehen,
    wie wir gekommen sind. Wir liegen dann,
    bärtige, weißhaarige, zahnlose
    Kinder, sanft vom Bauch

    auf den Rücken gedreht, die großen Augen
    auf etwas gerichtet, noch nie gesehen,
    Münder offen, sprachlos, staunend:
    Haben wir da etwas ausgehaucht?

    wir warten auf unser drittes Herz
    die Höhle ist schon bezogen so rauscht es
    in Schwarzweiß vor unseren Augen kurz auf
    noch immer ein wenig abstrakt in Pixel und
    Messwerte gekleidet erzählt nur der Frost davon
    was er uns bringen wird unser Schutzpatron seit jeher
    legt er sich um uns aus und macht seltene Geschenke
    vielleicht ist das hier ein Märchen und unser Herz
    wird Schnee lieben eingeschlossen in einem Wintertag
    mit Licht das hoffen lässt

    an zwei bäume    

    was, wenn wir nur erde werden? beweglicher             
    schaum, oder moos? oder zwei schwämme
    ihre toten als sporen unter den schalen?
    wieso war ich so kompliziert? werden wir einfach ein luftzug?
    tasten, fließende schemen, zwischen bäumen
    die nüsse herunterschütteln im herbst?
    sieht man sich? hörst du? der meistervogel –
    zieht man sich einfach nacht über?
    kann man einen tempel zurückbauen in bretter und licht?


    aus: SOMA. Gedichte. © kookbooks 2016

    Glockengruß

    Schwarzbefrackte sitzen in Bäumen und krächzen
    mir zu. Es ist fast fünf. Winterlich dunkelt der Tag.
    Wie ein Bundesgenosse lauf ich in Schwärze gekleidet
    durchs vernebelte Viertel. Seitwegs Laternen sich ziehn.
    In der Gemeinschaft hoch in den Kronen ist ihnen vertraulich
    gegen die Nacht zumut. Krumm, von der Kälte versteift,
    vor der Pauluskirche, mit hochgezogenen Schultern,
    hör ich in Andacht den schwingenden wärmenden Gruß.


    aus: Halle-Alphabet. Köln, Parasitenpresse 2020

    Memory

    Ich gehe an den Rand meiner Kindheit
    einen weiteren Weg einzuschlagen
    verbieten mir die Ausläufer meiner Vernunft

    der Aufprall. Winzig kleine Spione
    spritzen davon. Daumenagenten. Sie hocken
    an allen Ausgängen mit gezückten Mobiltelefonen.

    Auch ich bin einer von ihnen auch ich
    werde nicht zögern meine Nummer zu wählen
    die besetzt ist denn ich bin nie der Schnellste gewesen.

    Herbert Blomstedt dirigiert Beethoven

    Der, fast hundert, mit großen Händen
    die Violinen anzeigt, die Töne aus der Luft greift
    für Momente auf das Pult legt

    er sitzt, leicht gebeugt, als verneige er sich
    vor der Größe der Endlichkeit, den vorsichtigen Tönen
    die nach der Stille wie leise Tiere
    aus dem Wald treten, ein Tag ohne Jäger

    als ich dich bei mir liegen sah

    jetzt sehe ich in der luft dein haar
    vom wind verwüstet, einst von händen
    die, als sie noch bei dir lagen
    mehr denn je die meinen waren, jetzt
    greifen sie luft, wie vorher dein haar
    als ich dich bei mir liegen sah.


    aus: Im Glasberg. Gedichte, Frankfurt am Main, Schöffling & Co. 2020

     

    rotkäppchen

    rotkäppchen ging auf geradem weg durch den finsteren wald.
    sie ignorierte die blumen und den wolf, gelangte zum haus der
    großmutter und aß dort in ruhe kuchen.


    aus: lieder an das große nichts. Gedichte, Berlin, Suhrkamp Verlag 2021

     

    Zum Schutz vor Wahn, des Blödsinns Sinn
    Und wenn ich nicht zu Hause bin,
    Gegen zwei Dutzend schlechte Taten,
    Zu denen Bank und Staat dir raten,
    Gebe ich dir dies Amulett.
    Legs unters Kissen in dein Bett!
    Und hilft es dir im Schlaf zum Leben,
    Kannst du es morgen weitergeben.

    Ein Tropfen
    Himmel
    schaut mich an
    im Fallen gelöst
    von einem
    Sanddornstachel

    Sein Fall dauert
    ein ganzes
    Leben

    Mein Schauen
    einen Augenblick


    aus: Meer werden. Gedichte, AndreBuchVerlag 2022

    Ob ich überhaupt noch glücklich sein kann,
    fragst du und ich sag: schau, der klare
    Nachthimmel, der eiskalte Garten ...
    Gelassen kaut ein Hirsch an den Zweigen
    der klein gewachsenen Kirsche im Dunkeln,
    eingewickelt in eine Decke, steh ich am weit
    offenen Fenster und wünschte, du wärst hier,
    nackt und noch wach ... Ich sag: schau, das Glück
    ist ein kräftiges Tier, Orion, das Funkeln
    im Augenblick, als ein Zweig zerknickt

     

    kl:eine auferstehung

    nach dem großen regen
    öffnet sich der löwenzahn

    31. März, Ostersonntag 2024

     

     

    Flügelast

    Ein Versteck wie in der Kindheit
    im hohlen Stamm einer Lärche:

    Ich wachse in den Baum hinein,
    in seine Äste. Die sind mir

    nun Flügel und Gefieder, ich rudere
    mit den Armen und zerre kräftig

    an den Wurzeln. Atme schwer:
    Wäre so gern ein Ikarus.

    Komme von hier noch nicht los.

    wie früher verfolgt mich die werbung von 39-cent-spaghetti
    das gespür für billiges verlässt einen nie
    diesen spaghetti verdanke ich mein leben
    die spaghetti reklamieren an jeder ecke: wir vermissen dich
    hart wie gekocht kann ich mich an ihnen nicht aufhängen


    aus: Livestream & Leichen. Gedichte, Berlin, Verlagshaus Berlin 2023

    Schneefall wird den Abend beleuchten
    archaisches Gleißen unter unzähligen
    deren Summe das Dunkel ist. Sieh dich
    kunstlos an, Kunststück Versunkenheit
    sprich – schwebend, latent – namenlos
    farblos und atemlos, was diese Kontur
    diesen Kontrast ergibt. Abheben sich –
    wie Hörer, krass. Dabei gelassen liegen
    ungehoben und unbetreten – gelandet
    wie aus dem All, eines der Shuttles sein.


    aus: 118. Gedichte. © kookbooks 2017

     

    Der Schmerz ist da noch immer
    als Ursprung und als Aggregatzustand.
    Die Stacheln die man von Geburt an mitbekommt
    richten sich mit den Jahren auf
    und verhärten die Erinnerung zum Punkt.
    Nach außen sieht das lächerlich verkleinert aus
    wie das Halsband des Punks.
    Der nächste aus der Batterie an Haifischzähnen
    rückt vor das Leben.


    aus: Taupunkt. Gedichte, Berlin, Berlin Verlag 2022

    SKIZZE, ENDE APRIL

    woran ich glaube? dass wir nirgends sterben.
    worauf ich baue? staub und scherben.
    wem ich vertraue? nur den tieren,
    die alles dasein wortlos buchstabieren.
    wann ich ertaube? beim gesang des lichts.
    wohin ich schaue? in das blatt des nichts.

     

    Wenn alles vererbt wird

    bin ich
    der Bürgermeister von der Memel
    die Fußspur aus Westpreußen
    das blaue Blut im Herrenhaus
    die Witwe mit der Narbe, über die man nicht spricht
    das Haus voller Soldaten
    das Mädchen, das den Russen, die Kartoffeln aus dem Keller holt
    der Junge, der vom Rübenlaster fiel
    die Schwester des ungeborenen Bruders
    die Tochter von Horch-und-Guck
    die Mutter zweier Söhne
    bin ich


    aus: wo der Splitter sitzt. Hallesche Autorenhefte 76, 2023

    Lange Haare sind nun mal dazu da, in der Dusche

    den Abfluss zu verstopfen,
    das Entwürfe-Fach vollzupacken, voller
    jedenfalls als das Gesendet. Und wäre der Tod

    bloß eine Räumungsklage, dann
    zöge das Seelchen einen Leib weiter
    und lebte so fort.

    ALS DU MICH DA LIEBTEST, Cidli, sang
    In jeder Ecke meines Zimmers
    Ein Rotkehlchen, auf jedem First
    Meiner Wohnung eine Amsel,
    In jedem Ast meiner Liebe ein
    Fröhlicher Zaunkönig für dich.
    Ein großer Tag war das, tief im
    April, wir erwarteten die Rückkehr
    Der Nachtigall, des Pirols; und
    Alle Zärtlichkeit war sicher bei uns.

     

    Nachruf auf eine Jahreszeit (Berlin-Version)

    es schneit nicht mehr
    kein Schnee fällt mehr nieder
    es schneit nicht mehr
    und wenn es doch noch schneit,
    so bleibt der Schnee nicht liegen
    er schmilzt dahin,
    sobald er den Boden berührt
    doch wie gesagt:
    es schneit nicht mehr
    kein Schnee fällt mehr nieder

    In der luft die viel zu schweren vögel über den östlichen gebieten
    entlang der frontlinien von uns ungesehen falterhafte schwärme
    sturzflüge das zittern in den böden als der frost vorüberzieht
    sich einfrisst in die erde an den rändern das schwergerät
    der winter ist zurück und in den alten das längst verdrängte bild
    pulsiert das herzstück im zangengriff am saum blutende gerinnsel
    spuren in mir nach wenn es still wird im bitteren vorfrühling
    bilden sich junge knospen zurück sterben keimlinge im laub
    überall staub ein schattenriss der uns nicht mehr verlässt
    während die unruhe wächst verschlingen wir uns selbst

    zum totlieben, zum fortkommen
     
    das licht bliebe an im anderen zimmer
    als ob wir dahin
    bald zurückkehren könnten oder als ob
    wir noch dort sind als ob
    das zimmer dann bei uns bliebe & nicht
     
    fortging in ein ganz anderes haus

    Naturgedicht

    Du sollst die Welt
    nicht beglücken.
    Nimm lieber
    den Holzweg
    hinunter
    zum Fluss,
    atme ein
    und dann
    wieder aus.


    aus: Ovids Würfelspiel. Gedichte, Leipzig, Poetenladen Verlag 2023

     

    Der sizilianische Anzug
    zum vierten Todestag von Ror Wolf

    Er hängt im Kleiderschrank und zählt die Stunden
    bestimmt die Jahreszeit am Sonnenstand,
    dem schmalen Strahl durchs Schlüsselloch, dem runden,
    auf seinem schwarzen Fell, am Stangenrand.
    Und wird am Stangenrand von dem gefunden,
    der ihn schon einmal so im Dunkeln fand.
    Und geht mit ihm, sein Beileid zu bekunden.
    Den Totenanzug hat er gut gekannt.

    an einem fluss sitzen dem vorbeistrudelnden
    abwärtsfließenden wasser zusehen und
    warten was als nächstes kommt

    ein dampfer
    ein kanu
    ein sonnenloch
    ein neuer tag
    eine zeitlang
    nichts

    Kaltes klares Wasser 水
    Getrunken in einem Traum 夢
    Ein Cocktail gemischt im Hirn 
    Zog mich hoch in Ekstase 陶酔
    Lief über den Rand hinaus 
    Hinterließ eine Zwangsjacke 

    streichholz

    i
    eines klappert noch
    in der schachtel, gehütet
    wie ein erster zahn.

    ii
    dann angerissen
    in dichtestem dunkel: ah!,
    hier bin ich. war ich.


    aus: Steine & Erden. Gedichte. © 2023 Hanser Berlin

    EIN INSEKTENSTICH erinnert dich: die wiese vor der mahd
    zwischen schulgelände elternhaus der hauptschulhof direkt
    daneben: die gefahrenzone altersunterschied der stachel sitzt
    dir groß im zeh und pumpt jetzt kinder racker jugendliche
    bienenvölker in die pausen hinter dir und vor dir noch
    der heimweg nur das kurze stück schwillt an aus bienen-
    wachs sind beide beine und die füße in sandalen mit der
    herben glut am großen zeh: es ist schulschluß jetzt und zeit
    die wiesen endlich abzumähen


    aus: tagebrüche. Gedichte, Riemerling, yedermann Verlag 2010

    Am Rand der Schlucht
    Verkehrsgünstig gelegen
    Sitzt die Hoffnung
    Wie ein Schuss in den Nacken

    Die werden doch nicht

    Jahrzehnte später findet man
    Bei Starkregen immer wieder
    Fingerknochen im Vorgarten


    aus: Brustkasten. Gedichte, Köln, parasitenpresse 2024

     

    Lies nicht in der Chronik von gestern
    Letzte Nacht warst du in deiner eigenen Welt
    Und noch nach dem Erwachen überzeugt
    Du hättest das alles erlebt

    Und denen die fragten konntest du
    Keine Antwort geben welche Welt
    Ist die in die du die Füße stellst
    Welche die Welt in der du atmest

    Minnesang

    Ich sehe aus wie ausgeplaudert. Unter den Schatten
    liegen dunkle Augenränder. Um unsere Finger
    führt ein Blau, das ist dein See. Du bewegst dich besser
    als die Galaxie. Und dann noch das: Dein Herz so vornehm
    blass, als hättest du gespendet: Hummeln,
    die nur nachts marschieren – unter deinem Flügelschlag.
    Ich lerne kennen, wo du Sanftheit streust,
    die Grashalme berauschst. Vergiss nicht, ich war schon
    viele Zaunkönige in deinem Griff. Und viele mehr
    will ich in deinen Händen sein.

    Friedhof Diemitz

    hier,
    zwischen Christus und Grabmal
    erheben sich die gefallenen
    Blätter haufenweise,
    erhebt sich deine Stimme;
    was du zu sagen hast, ist
    fragil

    Und wenn ihr mich sucht:
    Ich steh im Schilf,
    lausche verborgen
    dem Knacken der Halme
    unter den Krallen
    der Drosselrohrsänger.
    Und wenn ihr mich findet,
    bin ich einer der Halme.


    aus: Im Wald fressen die Mottenlarven die Pelzreste der gestorbenen Tiere.
    Hallesche Autorenhefte 73, 2021

     

    matrjoschkas (I)

    klappst du uns auf springt eine tochter raus
    und aus der weitgeklappten tochter wieder

    eine kleinere bis hin zur letzten die ist hart
    und ohne mittelnaht setzt du von hier aus

    wieder ineinander unsre schar wirst sehen du
    dass jede mutter ihrer eignen mutter war


    aus: muttertask. Gedichte. © kookbooks 2023

    november richtung fluss/laufe langsam müde bin grundlos brunnenvoll
    frage immer stein oder schere stein oder schere/schwarze tiere hängen
    in bäumen/sind blätter und können nicht fliegen/dort ein haus sehr hoch
    hat zwei türme in die man nicht kommt/jemand öffnet das fenster/als
    stießen sich vögel ab (in flügel geschnürtes) und fielen nach oben
    wie in ein sieb


    aus: was passiert wirklich, wenn wir stolpern. Gedichte, Berlin, hochroth Verlag 2014