Stadtschreiberprojekt 2024
Die Künstler und ihre Gedichte
Regen
Der Regen ist kalt und hält lange. Er läuft an schwarzen Stämmen
herunter. Er sickert in den Boden. Die Augen lassen nicht los.
Sie hören die kleinen lautlosen Aufschläge. Der Regen ist
ein langsames Lied. Es schaut aus dem Fenster. Seine Stimmen
sind leise und weiß. Manchmal ist es nur eine, die an den Lippen
hängt. Sie wird immer heller, singt von vergangenen Wegen
und Wolken. Der Himmel ist still. Und die Wiesen liegen im Schlaf.
Sie trinken im Traum und im Wachen. Heute ist es am wenigsten Licht.
Der Vater starb in seinen Armen. Er ging aus dem Schatten
des Wassers. Er lächelte noch, als der Sohn ihn nach Hause trug.
Seebestattung
Eine Windbö
wirft den Kutter um
Die ganze Trauergemeinde
ertrinkt
Nur die Urne
schwimmt
VOLKSLIED
es kommt die Zeit in der wir stark nach Kneipe stinken
und unsre Haut unsterblich in der Sonne glänzt
wir glühen voller Inbrunst unter Linden
am Brunnen vorm Fabriktore im Lenz
aus: Biestmilch. Gedichte, Dresden, Edition Azur 2016
Der Paläontologe leckt den Sand
vom Zahnfossil des Urpferds
im PETM darbten verzwergten
Säuger Pflanzen passten sich an
in zweihundert Jahren vielleicht
sagt der Experte
sind auch wir ganz klein
auf der Suche nach einem Fluss
Key
Blau wie ein Splitter, vom Himmel gefallen
liegt er leicht in der Hand: ein Begleiter am Band
der uns Zutritt verschafft, unscheinbar, stumm, ein eifriger
Posten auf Wacht: jede Sekunde erfassend, selbst aufm Klo
ist er ihr Agent, der liefert, uns zu loben/zu strafen, wie Kinder
unzerstörbar, so gibt er sich, gegen die Wut
die ihm gilt, unschuldig, klar, als ein Blick, alles durchdringend
bereit zu zerstören, uns, im Job, ganz nebenbei
diese irre freude
leicht an deiner hand
zu hängen
und dabei beide
hände zu kennen diese
wandernden windigen
weichen packenden
zwackenden suchenden
streifenden greifenden
mich immer berührenden
verführenden haltenden
fassenden und lassenden
vagabunden
aus: Blaudunkel. Gedichte, Halle, Mitteldeutscher Verlag 2024
auf eine wiese gehen, schüchtern, und streunen,
den flieder riechen, mitten im gras, eine handvoll
fliesen finden, mit rissen versehen (gekratzten?),
resten von fugenkleber, mit fragen (wo läufst du
hin?). sie in die hand nehmen, sachte, wie flusen
fliese um fliese auslegen, etwas glut dazugeben
salze, zehn zeilen lang nur, auf daß träume
fließen, bilder von brachen, von liegen im grünen
versäumen, versäumen, was fliehen sein könnte
was drang. und lügst du? fliegst du die halde entlang?
Für C.
Wie viele Instrumente der Regen hat, überall
klingt er anders. Vermutlich könnte man die Welt
neu errichten, mit sämtlichen Gebäuden und Landschaften
hätte man nur ein Archiv der Regengeräusche.
Aber es bräuchte auch jemanden, der zuhört. Zwei sogar.
Man braucht nur einen Regen,
einen Ort mit Baum und Strauch.
Und einen zweiten Menschen.
Diesen zweiten braucht es auch.
ich trage eine kleine feder
vom rücken eines dunklen vogels
sie lässt mich mit den händen spüren
was menschen mir nicht sagen mögen
an kalten tagen will ich wissen
wo dunkle vögel überwintern
mein kopf folgt seltsamen gesetzen
aus: Gestohlene Luft. Gedichte. © kookbooks 2020
Maica Domnului
Land der zerküssten Ikonen. Madonnenbild.
Kühl hält die Mutter das Kind auf dem Arm, auf dem
linken, vom Leib sich. Verloren die Farbschicht der
Antlitze, Kleider u. Tücher. Nur Holz mit dem
silbernen Oklad der Nimben (wie Hufeisen),
Hände (samt Sphäre) u. Füße (im Kerzenruß).
aus: Stundenholz. Gedichte, Frankfurt am Main, Schöffling & Co. 2024
du hast so schön die Rosen hochgebunden
die englischen Rosen mit ihren schweren Köpfen
ich weiß nicht wie es noch gut werden soll
ich denke der Sommer noch das Blühen noch
ich denke ein wenig wird alles noch halten
vorm Gartentor schläft ein Drache ich vergesse
immer öfter das Tor hinter mir zu schließen
ach mein schön gefüllter verblühender Kopf
ich vermisse speziell das letzte jahr vor
unser aller geburt 1963
stellte der bronx zoo in new york
sein neustes tier vor
betitelt als
das gefährlichste tier der welt im raum
stand and this is where it ends with us
ein spiegel
immer denke ich an deine sommersprossen unterm kinn
die dort im schatten liegen – kleine hunde
auf deinen weißen augenschonern, deckelchen, deckchen
liegen sie auch. vielleicht auch mokkatassen, kleinste tässchen
die ganz reglos stehn. nur mit der zungenspitze
auszukosten. wie leicht verschwitzt das alles ungeheuer
mundet, duftet, still verwundert! angemalte gartenhäuschen.
läg ich im grab mit einer schnur an meiner hand
ich würde klingeln
für jede sommersprosse schrecklich klingeln!
aus: ich lebe in einem wasserturm am meer, was albern ist.
Gedichte, Wiesbaden, luxbooks 2013
Jeden Morgen erwachen die Frauen etwas früher als die Angst.
Früh genug, um die Kinder mit Hoffnung zu stillen. Um die
Spinnweben der Angst zu entfernen und die Fenster aufzu-
reißen. Durch das geöffnete Fenster steigt der Tag. Er trägt
silberne Ohrringe, in denen trifft die Liebe auf den Hass usw.
Wir kennen das, die alte Geschichte von oben und unten, gut
und schlecht. Der Tag setzt sich, und die Frauen bieten ihm
Kaffee an. Dann trinken sie schweigend. Selbst wenn die Furcht
sich einschleichen sollte im Laufe eines langen Tages, die
Frauen wissen: Am Morgen werden sie wieder furchtlos sein.
aus: 100 sehr kurze Gespräche. Gedichte, Nettetal, Elif Verlag 2023
Ich bin deine Muhme, ja,
aus Körnchen und Krume ward
ich gestoßen, gebrannt,
„je runder die Körner, desto
geringer der Schwund!“,
ging dir leicht von der Hand,
vielleicht, damit du liest:
Mensch, aus Lehm gemacht,
aus Lehm gemacht, ich Fliese.
Gedichte sind komische kleine Dinger.
Sie werden einfach so an Land gespült,
ihr Anblick ist oft unerträglich.
Doch manchmal sehe ich auf ein Gedicht
und möchte poppen mit ihm.
---
Auf der Folie dieses
elektrischen Körpers, der als Gesetz
des Widerspruchs in der moralischen Welt
interpretiert wird, will ich Abschied nehmen
von solcher Art der Freizeitbeschäftigung.
Dass wir im Sauerstoff-Meer leben
Schau auf die Mauersegler, wie sie nach Plankton jagen
Die Insekten, in der zähen Sommerluft
Die Bäume, deren Ausscheidungen wir atmen
Was heißt schon frei
wenn Du nicht schwimmen kannst
Schräg
Vogelmiere breitet sich aus auf den Steinen
die Hühner fressen sie nicht
sie halten den Kopf schief und warten
sie fressen nur, was man ihnen gibt
nur was man rausreißt und ihnen hinwirft
macht sie verrückt; sie lassen es
sofort wieder fallen, wenn man das nächste
rausreißt und wirft
dein bin ich geworden mit dem ersten Schritt
vom Ufer ins Wasser hinein
ins offene Auge zwischen den Feldern
dein Teichlinsenreich, Wassermann
hier also find mich
Lehm zwischen den Zehen
und wasch mich mit Tränen
und wasch mich mit Schweiß
und tauf mich im Namen des Schilfs und der Weiden
im Namen des Baches, der namenlos fließt
das hingeworfene, geschenkte
was aber, wenn dieses leben niemand haben will, dies hingeworfene,
geschenkte, einzige, schon mehr als halb vergangene. was wenn blessuren
keiner zählen will, schönheiten unter den blessuren, kleine blaue flecken
aus liebe. was, wenn niemand beißen will in diesen nacken, diese poren,
aus denen morgens träume sickern, abgesondert in laken
als stinkende spur. wenn diese detektivarbeit niemand übernehmen will,
nicht mal für gute kohle: bleibt dann alles wie es ist, bleibt der körper
hängen im durchzug, an einen türrahmen gebunden, zitternd, oder
kommt eine böe, reißt ihn in die höhe, trägt ihn davon?
mit einem Satz von Tomas Espedal, Übersetzung: Paul Berf
SO SIND WIR
Uns geneigt. Das Gras
Verschwimmt, es geigt
Der Schatten übers Fell. Ein Berg geht
Auf, schon stehn wir hell. Es träumt
Sich was, verstimmt uns schlingt uns
Schnell und bleibt
Panorama Cospuden
Süden und du, das kann noch reichen, sind die Bäume blattlos, sind die
Augen ohne Wimpern, sind meine Freunde auf den Straßen wie
im städtischen Gefängnis oder wie ausgesetzt auf ihren Wegen –
der See ist still, du gehst wohl fort, hinten geht ein Hundetrainer
Freunde in Jogginghosen, in den Gärten Tollkirschen mit dunklen
Beeren, einmal berauscht, dann wieder ausgegraut, haben uns zu lichtscheuen
Wesen erzogen, kaum vorbei der Kuss, zogen wir uns an Computer zurück
Mir schwant, ich gehe unter
die Haut, die Haut
aber schützt mich nicht vor Dunkelheit
und sie hält nicht an Händen
aber sie sorgt dafür
dass ich beisammen bleibe, die Gedichte
wie Organe mit mir trage
wenn ich schweige, machen sie mich aus
es bedeutet haut, es
bedeutet durch
türen gehen in diesem
schwankenden haus überm
kliff, in diesem lufthaus
in dem die toten heraus
und herein wie
schwalben fliegen.
aus: Im Lufthaus. Gedichte, Halle, Mitteldeutscher Verlag 2005
LEBENSLAUF
vor meinem vaterhaus
stand eine linde
die ich trotz langen
suchens einfach
nicht mehr finde
Trugen mich Rehe
Ich habe alle Blätter verloren
als der Wind mich durchschoss
gab ich auch die herzförmigen
schönen und gelben gab
was ich noch besaß den Rehen
meine ganze Angst trugen sie
unter ihren labilen Rippen
mein entzündetes Fell über
die Berge weit weg sollte es
sein wo kein Schuss mehr
nur weit weg sollte es sein.
kleine Studie über meine Hand
am Abend habe ich bemerkt:
meine Hand auf meinem
Knie ist für einen Moment
etwas Schönes, Wohlgeformtes
Saumliebchen, einen Moment
saumselig, säumig gar, träge
durchädert, hält das Knie, fußt
auf Haut, baut aufs Gliedmaß
aufs Istmaß, mustergültiger
Fühler, ruht nur, sieh nur:
schnurrt
aus: oder wie heißt diese interplanetare luft. Gedichte. © dtv 2013
FADEOUT
Natürlich werden wir nicht so gehen,
wie wir gekommen sind. Wir liegen dann,
bärtige, weißhaarige, zahnlose
Kinder, sanft vom Bauch
auf den Rücken gedreht, die großen Augen
auf etwas gerichtet, noch nie gesehen,
Münder offen, sprachlos, staunend:
Haben wir da etwas ausgehaucht?
wir warten auf unser drittes Herz
die Höhle ist schon bezogen so rauscht es
in Schwarzweiß vor unseren Augen kurz auf
noch immer ein wenig abstrakt in Pixel und
Messwerte gekleidet erzählt nur der Frost davon
was er uns bringen wird unser Schutzpatron seit jeher
legt er sich um uns aus und macht seltene Geschenke
vielleicht ist das hier ein Märchen und unser Herz
wird Schnee lieben eingeschlossen in einem Wintertag
mit Licht das hoffen lässt
an zwei bäume
was, wenn wir nur erde werden? beweglicher
schaum, oder moos? oder zwei schwämme
ihre toten als sporen unter den schalen?
wieso war ich so kompliziert? werden wir einfach ein luftzug?
tasten, fließende schemen, zwischen bäumen
die nüsse herunterschütteln im herbst?
sieht man sich? hörst du? der meistervogel –
zieht man sich einfach nacht über?
kann man einen tempel zurückbauen in bretter und licht?
aus: SOMA. Gedichte. © kookbooks 2016
Glockengruß
Schwarzbefrackte sitzen in Bäumen und krächzen
mir zu. Es ist fast fünf. Winterlich dunkelt der Tag.
Wie ein Bundesgenosse lauf ich in Schwärze gekleidet
durchs vernebelte Viertel. Seitwegs Laternen sich ziehn.
In der Gemeinschaft hoch in den Kronen ist ihnen vertraulich
gegen die Nacht zumut. Krumm, von der Kälte versteift,
vor der Pauluskirche, mit hochgezogenen Schultern,
hör ich in Andacht den schwingenden wärmenden Gruß.
aus: Halle-Alphabet. Köln, Parasitenpresse 2020
Memory
Ich gehe an den Rand meiner Kindheit
einen weiteren Weg einzuschlagen
verbieten mir die Ausläufer meiner Vernunft
der Aufprall. Winzig kleine Spione
spritzen davon. Daumenagenten. Sie hocken
an allen Ausgängen mit gezückten Mobiltelefonen.
Auch ich bin einer von ihnen auch ich
werde nicht zögern meine Nummer zu wählen
die besetzt ist denn ich bin nie der Schnellste gewesen.
Herbert Blomstedt dirigiert Beethoven
Der, fast hundert, mit großen Händen
die Violinen anzeigt, die Töne aus der Luft greift
für Momente auf das Pult legt
er sitzt, leicht gebeugt, als verneige er sich
vor der Größe der Endlichkeit, den vorsichtigen Tönen
die nach der Stille wie leise Tiere
aus dem Wald treten, ein Tag ohne Jäger
als ich dich bei mir liegen sah
jetzt sehe ich in der luft dein haar
vom wind verwüstet, einst von händen
die, als sie noch bei dir lagen
mehr denn je die meinen waren, jetzt
greifen sie luft, wie vorher dein haar
als ich dich bei mir liegen sah.
aus: Im Glasberg. Gedichte, Frankfurt am Main, Schöffling & Co. 2020
rotkäppchen
rotkäppchen ging auf geradem weg durch den finsteren wald.
sie ignorierte die blumen und den wolf, gelangte zum haus der
großmutter und aß dort in ruhe kuchen.
aus: lieder an das große nichts. Gedichte, Berlin, Suhrkamp Verlag 2021
Zum Schutz vor Wahn, des Blödsinns Sinn
Und wenn ich nicht zu Hause bin,
Gegen zwei Dutzend schlechte Taten,
Zu denen Bank und Staat dir raten,
Gebe ich dir dies Amulett.
Legs unters Kissen in dein Bett!
Und hilft es dir im Schlaf zum Leben,
Kannst du es morgen weitergeben.
Ein Tropfen
Himmel
schaut mich an
im Fallen gelöst
von einem
Sanddornstachel
Sein Fall dauert
ein ganzes
Leben
Mein Schauen
einen Augenblick
aus: Meer werden. Gedichte, AndreBuchVerlag 2022
Ob ich überhaupt noch glücklich sein kann,
fragst du und ich sag: schau, der klare
Nachthimmel, der eiskalte Garten ...
Gelassen kaut ein Hirsch an den Zweigen
der klein gewachsenen Kirsche im Dunkeln,
eingewickelt in eine Decke, steh ich am weit
offenen Fenster und wünschte, du wärst hier,
nackt und noch wach ... Ich sag: schau, das Glück
ist ein kräftiges Tier, Orion, das Funkeln
im Augenblick, als ein Zweig zerknickt
kl:eine auferstehung
nach dem großen regen
öffnet sich der löwenzahn
31. März, Ostersonntag 2024
Flügelast
Ein Versteck wie in der Kindheit
im hohlen Stamm einer Lärche:
Ich wachse in den Baum hinein,
in seine Äste. Die sind mir
nun Flügel und Gefieder, ich rudere
mit den Armen und zerre kräftig
an den Wurzeln. Atme schwer:
Wäre so gern ein Ikarus.
Komme von hier noch nicht los.
wie früher verfolgt mich die werbung von 39-cent-spaghetti
das gespür für billiges verlässt einen nie
diesen spaghetti verdanke ich mein leben
die spaghetti reklamieren an jeder ecke: wir vermissen dich
hart wie gekocht kann ich mich an ihnen nicht aufhängen
aus: Livestream & Leichen. Gedichte, Berlin, Verlagshaus Berlin 2023
Schneefall wird den Abend beleuchten
archaisches Gleißen unter unzähligen
deren Summe das Dunkel ist. Sieh dich
kunstlos an, Kunststück Versunkenheit
sprich – schwebend, latent – namenlos
farblos und atemlos, was diese Kontur
diesen Kontrast ergibt. Abheben sich –
wie Hörer, krass. Dabei gelassen liegen
ungehoben und unbetreten – gelandet
wie aus dem All, eines der Shuttles sein.
aus: 118. Gedichte. © kookbooks 2017
Der Schmerz ist da noch immer
als Ursprung und als Aggregatzustand.
Die Stacheln die man von Geburt an mitbekommt
richten sich mit den Jahren auf
und verhärten die Erinnerung zum Punkt.
Nach außen sieht das lächerlich verkleinert aus
wie das Halsband des Punks.
Der nächste aus der Batterie an Haifischzähnen
rückt vor das Leben.
aus: Taupunkt. Gedichte, Berlin, Berlin Verlag 2022
SKIZZE, ENDE APRIL
woran ich glaube? dass wir nirgends sterben.
worauf ich baue? staub und scherben.
wem ich vertraue? nur den tieren,
die alles dasein wortlos buchstabieren.
wann ich ertaube? beim gesang des lichts.
wohin ich schaue? in das blatt des nichts.
Wenn alles vererbt wird
bin ich
der Bürgermeister von der Memel
die Fußspur aus Westpreußen
das blaue Blut im Herrenhaus
die Witwe mit der Narbe, über die man nicht spricht
das Haus voller Soldaten
das Mädchen, das den Russen, die Kartoffeln aus dem Keller holt
der Junge, der vom Rübenlaster fiel
die Schwester des ungeborenen Bruders
die Tochter von Horch-und-Guck
die Mutter zweier Söhne
bin ich
aus: wo der Splitter sitzt. Hallesche Autorenhefte 76, 2023
Lange Haare sind nun mal dazu da, in der Dusche
den Abfluss zu verstopfen,
das Entwürfe-Fach vollzupacken, voller
jedenfalls als das Gesendet. Und wäre der Tod
bloß eine Räumungsklage, dann
zöge das Seelchen einen Leib weiter
und lebte so fort.
ALS DU MICH DA LIEBTEST, Cidli, sang
In jeder Ecke meines Zimmers
Ein Rotkehlchen, auf jedem First
Meiner Wohnung eine Amsel,
In jedem Ast meiner Liebe ein
Fröhlicher Zaunkönig für dich.
Ein großer Tag war das, tief im
April, wir erwarteten die Rückkehr
Der Nachtigall, des Pirols; und
Alle Zärtlichkeit war sicher bei uns.
Nachruf auf eine Jahreszeit (Berlin-Version)
es schneit nicht mehr
kein Schnee fällt mehr nieder
es schneit nicht mehr
und wenn es doch noch schneit,
so bleibt der Schnee nicht liegen
er schmilzt dahin,
sobald er den Boden berührt
doch wie gesagt:
es schneit nicht mehr
kein Schnee fällt mehr nieder
In der luft die viel zu schweren vögel über den östlichen gebieten
entlang der frontlinien von uns ungesehen falterhafte schwärme
sturzflüge das zittern in den böden als der frost vorüberzieht
sich einfrisst in die erde an den rändern das schwergerät
der winter ist zurück und in den alten das längst verdrängte bild
pulsiert das herzstück im zangengriff am saum blutende gerinnsel
spuren in mir nach wenn es still wird im bitteren vorfrühling
bilden sich junge knospen zurück sterben keimlinge im laub
überall staub ein schattenriss der uns nicht mehr verlässt
während die unruhe wächst verschlingen wir uns selbst
zum totlieben, zum fortkommen
das licht bliebe an im anderen zimmer
als ob wir dahin
bald zurückkehren könnten oder als ob
wir noch dort sind als ob
das zimmer dann bei uns bliebe & nicht
fortging in ein ganz anderes haus
Naturgedicht
Du sollst die Welt
nicht beglücken.
Nimm lieber
den Holzweg
hinunter
zum Fluss,
atme ein
und dann
wieder aus.
aus: Ovids Würfelspiel. Gedichte, Leipzig, Poetenladen Verlag 2023
Der sizilianische Anzug
zum vierten Todestag von Ror Wolf
Er hängt im Kleiderschrank und zählt die Stunden
bestimmt die Jahreszeit am Sonnenstand,
dem schmalen Strahl durchs Schlüsselloch, dem runden,
auf seinem schwarzen Fell, am Stangenrand.
Und wird am Stangenrand von dem gefunden,
der ihn schon einmal so im Dunkeln fand.
Und geht mit ihm, sein Beileid zu bekunden.
Den Totenanzug hat er gut gekannt.
an einem fluss sitzen dem vorbeistrudelnden
abwärtsfließenden wasser zusehen und
warten was als nächstes kommt
ein dampfer
ein kanu
ein sonnenloch
ein neuer tag
eine zeitlang
nichts
Kaltes klares Wasser 水
Getrunken in einem Traum 夢
Ein Cocktail gemischt im Hirn
Zog mich hoch in Ekstase 陶酔
Lief über den Rand hinaus
Hinterließ eine Zwangsjacke
streichholz
i
eines klappert noch
in der schachtel, gehütet
wie ein erster zahn.
ii
dann angerissen
in dichtestem dunkel: ah!,
hier bin ich. war ich.
aus: Steine & Erden. Gedichte. © 2023 Hanser Berlin
EIN INSEKTENSTICH erinnert dich: die wiese vor der mahd
zwischen schulgelände elternhaus der hauptschulhof direkt
daneben: die gefahrenzone altersunterschied der stachel sitzt
dir groß im zeh und pumpt jetzt kinder racker jugendliche
bienenvölker in die pausen hinter dir und vor dir noch
der heimweg nur das kurze stück schwillt an aus bienen-
wachs sind beide beine und die füße in sandalen mit der
herben glut am großen zeh: es ist schulschluß jetzt und zeit
die wiesen endlich abzumähen
aus: tagebrüche. Gedichte, Riemerling, yedermann Verlag 2010
Am Rand der Schlucht
Verkehrsgünstig gelegen
Sitzt die Hoffnung
Wie ein Schuss in den Nacken
Die werden doch nicht
–
Jahrzehnte später findet man
Bei Starkregen immer wieder
Fingerknochen im Vorgarten
aus: Brustkasten. Gedichte, Köln, parasitenpresse 2024
Lies nicht in der Chronik von gestern
Letzte Nacht warst du in deiner eigenen Welt
Und noch nach dem Erwachen überzeugt
Du hättest das alles erlebt
Und denen die fragten konntest du
Keine Antwort geben welche Welt
Ist die in die du die Füße stellst
Welche die Welt in der du atmest
Minnesang
Ich sehe aus wie ausgeplaudert. Unter den Schatten
liegen dunkle Augenränder. Um unsere Finger
führt ein Blau, das ist dein See. Du bewegst dich besser
als die Galaxie. Und dann noch das: Dein Herz so vornehm
blass, als hättest du gespendet: Hummeln,
die nur nachts marschieren – unter deinem Flügelschlag.
Ich lerne kennen, wo du Sanftheit streust,
die Grashalme berauschst. Vergiss nicht, ich war schon
viele Zaunkönige in deinem Griff. Und viele mehr
will ich in deinen Händen sein.
Friedhof Diemitz
hier,
zwischen Christus und Grabmal
erheben sich die gefallenen
Blätter haufenweise,
erhebt sich deine Stimme;
was du zu sagen hast, ist
fragil
Und wenn ihr mich sucht:
Ich steh im Schilf,
lausche verborgen
dem Knacken der Halme
unter den Krallen
der Drosselrohrsänger.
Und wenn ihr mich findet,
bin ich einer der Halme.
aus: Im Wald fressen die Mottenlarven die Pelzreste der gestorbenen Tiere.
Hallesche Autorenhefte 73, 2021
matrjoschkas (I)
klappst du uns auf springt eine tochter raus
und aus der weitgeklappten tochter wieder
eine kleinere bis hin zur letzten die ist hart
und ohne mittelnaht setzt du von hier aus
wieder ineinander unsre schar wirst sehen du
dass jede mutter ihrer eignen mutter war
aus: muttertask. Gedichte. © kookbooks 2023
november richtung fluss/laufe langsam müde bin grundlos brunnenvoll
frage immer stein oder schere stein oder schere/schwarze tiere hängen
in bäumen/sind blätter und können nicht fliegen/dort ein haus sehr hoch
hat zwei türme in die man nicht kommt/jemand öffnet das fenster/als
stießen sich vögel ab (in flügel geschnürtes) und fielen nach oben
wie in ein sieb
aus: was passiert wirklich, wenn wir stolpern. Gedichte, Berlin, hochroth Verlag 2014